Michael Loos
Klassik.com, Germany
November 2015
PERFORMANCE
RECORDING

In ihren besten Momenten beeindruckt die Musik von Leo Ornstein durch eine gelungene Mischung aus lyrischen und perkussiven Elementen, doch es gibt auch langweilige Passagen.

Komponisten sterben früh? Das mag in vielen Fällen stimmen, nicht jedoch bei Leo Ornstein. Auch wenn sein Geburtsjahr nicht absolut sicher überliefert ist (die meisten Quellen nennen 1892), erreichte er doch mindestens 106, vielleicht sogar 109 Lebensjahre—verstorben ist der Glazunov-Schüler im Februar 2002 in den USA. Zu diesem Zeitpunkt war sein einst international anerkanntes Schaffen fast vergessen, erst in den letzten Jahren sind (vornehmlich auf Tonträgern) wieder einige seiner Klavierwerke verfügbar. Ornstein begann mit radikal atonalen Stücken, bevor er zu Beginn der 1920er Jahre zu einem maßvoll modernen Stil fand.

Seine Musik aus dieser Zeit ist hörbar von Bartok und Strawinsky beeinflusst, besitzt darüber hinaus aber auch lyrisch-melodische Momente, die an Rachmaninoff erinnern. Wie Bartók und Rachmaninoff war Ornstein ein exzellenter Pianist, so dass er ein Werk wie das 1927 entstandene Klavierquintett op. 92 naheliegenderweise für den Eigengebrauch schrieb. Der Klavierpart ist virtuos, oft dominiert das Tasteninstrument die vier Streicher. Marc-André Hamelin, der bereits eine CD mit Klavierwerken des Komponisten eingespielt hat, musiziert hier zusammen mit dem Pacifica-Quartett. Zu hören ist außerdem das zweite Streichquartett op. 99, vermutlich 1930 entstanden.

Wenn ein Kammermusikwerk eine gewisse Ausdehnung überschreitet, kann man häufig lesen, es sei ‚symphonisch‘ konzipiert. Es wäre jedoch zu einfach, jedes kammermusikalische Stück, das einfach nur lange (nicht selten auch zu lange) dauert, gleich als symphonisch (oder orchestral) zu bezeichnen. Ornsteins Quintett ist, trotz vieler sehr beeindruckender Passagen, von dieser Problematik nicht ganz frei—die 40 Minuten können den Hörer phasenweise verblüffen, aber an einzelnen Stellen auch langweilen. So gelungen der perkussive, aufwühlende Beginn des Kopfsatzes ist, so klar wird in dessen weiterem Verlauf, dass die Musik ein wenig zerfließt.

Obwohl Hamelin und die Musiker des Quartettes die Vortragsanweisung 'Allegro barbaro' beim Wort nehmen und ordentlich zupacken, gibt es dennoch hier und da etwas Leerlauf. Diesen zu überspielen ist kaum möglich. Auch wenn die Tempi der Ecksätze rasant gewählt wurden und das 'Andante lamentoso' ebenfalls vergleichsweise zügig wirkt, kann diese Interpretation nicht vollauf überzeugen. Vielleicht liegt es am etwas zu stark betonten perkussiven Element, das in dieser Musik zwar durchaus dominiert, aber nicht alleine dasteht. Hier und da ein etwas entspannter ausgesungener Melodiebogen von Simin Ganatras erster Geige hätte dem Werk sicherlich gutgetan. So entsteht ein allzu schroffer, herber Eindruck eines Quintettes, gepaart mit (vor allem im Finalsatz) hörbarer Freude an der hohen Virtuosität. Vor allem Hamelin zeigt hier einmal mehr seine schon legendäre Technik. An der klanglichen Balance gibt es nichts auszusetzen: Klavier und Streicher wirken gut ausgewogen, was angesichts der teils heftigen Klangmassen eine höchst beachtliche Leistung der Tontechnik darstellt.

Das zweite Streichquartett wirkt weniger dramatisch, aber auch weniger unterhaltsam als das Klavierquintett. Ornstein legte in allen drei Sätzen viel Wert auf lyrische Elemente und verdichtete polyphone Strukturen, die von den vier Musikern des Pacifica-Quartettes sensibel herausgearbeitet werden. Auch hier entsteht allerdings der Eindruck einer gewissen Überlänge, wenn Motive und Themen zu oft auftauchen, vor allem im Kopfsatz. Sowohl die technische Leistung als auch die instrumentale Balance der Ausführenden ist einwandfrei, aber der Funken will in diesem Werk nicht so recht überspringen. Am vergnüglichsten anzuhören ist auch hier das Finale, dessen rasante Steigerungen dem Pacifia-Quartett gut gelingen.

Für jeden Musikfreund, der den Komponisten Ornstein kennernlernen will, ist die CD trotz der genannten Einschränkungen empfehlenswert. Und auch die Hörer, die Hamelin (völlig zu Recht) für einen der herausragenden Pianisten unserer Zeit halten, werden zumindest am Quintett ihre Freude haben. Ich möchte jedoch nicht unterschlagen, dass der Komponist in diesen beiden Werken der Qualität seiner oben genannten Vorbilder ein gutes Stück hinterherhinkt. Wer dies verschmerzt, wird die Musik sicherlich genießen können.

Klassik.com, Germany