RECORDING
Die neueste Platte der Geigerin Alina Ibragimova ist, was die Auswahl des Repertoires betrifft, durchaus als innovativ zu bezeichnen. In Kooperation mit dem Barockensemble Arcangelo und dessen künstlerischem Leiter Jonathan Cohen (erschienen beim Label Hyperion) widmet sich die russische Violinistin bereits zum wiederholten Mal ausschließlich Werken Johann Sebastian Bachs, präsentiert aber neben den beiden populären ‚originalen‘ Violinkonzerten in a-Moll (BWV 1041) und E-Dur (BWV 1042) auch solche, die heute vorrangig als Cembalokonzerte im gängigen Repertoire kursieren. Dabei entstammen die solcherart rekonstruierten Versionen durchaus unterschiedlichen Quellenlagen: Der Booklettext erläutert, dass die Cembalokonzerte Nr. 1 in d-Moll (BWV 1052) und Nr. 5 in f-Moll (BWV 1056) in ihrer ursprünglichen Fassung als Violinkonzerte konzipiert worden sind, später aber von Bach selbst für solistisches Tasteninstrument umfunktioniert wurden. Das Cembalokonzert Nr. 4 in A-Dur (BWV 1055) hingegen existierte zunächst in einer Version für Oboe d‘amore, bevor der Komponist es für den Eigengebrauch in ein Cembalokonzert umwandelte. Hier liegt also keine originale Fassung für Violine, sondern für Oboe d‘amore vor.
Ibragimova und Cohen reanimieren eine bewährte Selbstverständlichkeit barocker Musizierpraxis, indem sie den (unserer heutigen Zeit, nicht aber der Werkentstehungszeit entsprechenden) Glauben an die Unantastbarkeit des Werks aufbrechen und sich ungehemmt auch solcher Werke annehmen, die im Original—von dem im emphatischen Sinn zu Bachs Zeit ohnehin keine Rede sein konnte—anderen Instrumenten zugedacht waren. Das Resultat schließlich bekräftigt die Position der Interpreten: Neben den beiden Konzerten Nr. 1 und 5 nimmt sich auch das Oboe d‘amore-/Cembalokonzert hervorragend für Solovioline aus.
Virtuoser Höhepunkt der ungewöhnlichen Zusammenstellung ist die rekonstruierte Version des großen d-Moll-Konzerts. Die Rigorosität, mit der das Arcangelo-Ensemble schon das einleitende Unisono in den Raum stellt, beherrscht den ganzen Kopfsatz und wird von der Solistin forsch übernommen. Ibragimova, die schon in den übrigen Konzerten mit untadeligen technischen Fertigkeiten geglänzt hatte, überzeugt auch hier mit überlegter, durchgestalteter Artikulation, die trotz des hohen Tempos nichts an Präzision einbüßt. Die Lebhaftigkeit, die Solistin und Ensemble mit dem gewichtigen Duktus des Werks mühelos vereinbaren, prägt auch den Schlusssatz, in dem beide Klangkörper sich in kunstvoll verwobenem Wechselspiel ständig ablösen, ohne dabei aber bloß pauschal zwischen Solo- und Tuttiabschnitten zu unterscheiden: Gerade die Gestaltung dieser einander ablösenden musikalischen Gedanken bestätigt den Eindruck, dass Ibragimova und Arcangelo wirklich miteinander musizieren, am selben Stück Musik partizipieren, sich gegenseitig den Ball zuspielen. Entsprechend scheint nicht nur im d-Moll-Konzert, sondern auch in allen übrigen eine durchaus kammermusikalisch gedachte Konzeption der Interpreten durch, die sich besonders in einer Aufwertung des Orchesterparts zeigt: Während Ibragimova sich selbst in solistisch ausgerichteten Passagen mitunter ganz zurücknehmen kann, wird dem übrigen Ensemble Gelegenheit gegeben, sich auch jenseits der wiederkehrenden Ritornelle als vollwertig beteiligtes Organ zu präsentieren. In der Folge treten Klangqualitäten zutage, die durch die stereotype Einteilung in solistische und nicht-solistische Abschnitte unterdrückt würden. Keineswegs jedoch beschneidet die kammermusikalische Ausrichtung der Interpretation den Raum der Sologeigerin, als virtuoser Mittelpunkt des musikalischen Geschehens in Erscheinung zu treten; doch Ibragimova vermag zu differenzieren zwischen Passagen, die ihr Raum für extrovertiertes Brillieren lassen, und Abschnitten, in denen ihr Part zwar bedeutend, aber nicht autonom ist.
Ein schlackenloser, geradliniger Ton, den man sich mitunter wandlungsfähiger, farbiger wünschen würde, zeichnet Ibragimovas Spiel in den kantablen langsamen Sätzen der Konzerte aus. Während das 'Adagio' des f-Moll-Konzertes (in der Fassung für Violine in g-Moll) sich als Quasi-Solo für Violine präsentiert, in dem die Geige durchweg über den zart begleitenden Pizzicato-Klängen des Ensembles schwebt, gestalten Ibragimova und Arcangelo die übrigen Mittelsätze gleich den übrigen im kammermusikalischen Sinne, sodass die Solistin zeitweilig in die Klangsphäre des Orchesters eintauchen kann. Was stellenweise zur natürlichen Tonsprache der Geigerin nicht recht zu passen scheint, sind die extrem gestalteten Diminuendi und Pianissimi, die Ibragimova namentlich in den langsamen Sätzen, teilweise aber auch in den Ecksätzen anbringt. Das Herunterfahren der Dynamik auf ein gerade noch vernehmbares Minimum mag das ein oder andere Mal als faszinierender Effekt wirken, der der Musik einen Hauch sakraler Innerlichkeit verleiht; wo daraus aber ein Regelfall wird, drängt sich allzu rasch der Verdacht des Manierierten auf.
Ibragimova und das Arcangelo-Ensemble unter Jonathan Cohen, der die Leitung vom Cembalo aus übernimmt, legen mit ihrer Einspielung der Bach-Konzerte eine reizvolle und hörenswerte Platte vor, die neben der Präsentation geschmackvollen, lebendigen Musizierens mit einer interessanten Werkzusammenstellung aufwartet. Die rekonstruierten Fassungen der populären Cembalokonzerte gewähren neue, veränderte Blickwinkel auf die oft gehörten Stücke, indem das Bekannte durch die Brille des Ungewohnten betrachtet wird. Das kammermusikalisch durchdrungene Verständnis, das die Herangehensweise von Solistin und Ensemble ausmacht, trägt ein Übriges dazu bei, klangliche Qualitäten an die Oberfläche zu transportieren, die in der bloßen Gegenüberstellung von Solo und Tutti verloren gingen. So zehren letztlich auch die beiden ‚originalen‘ Konzerte in E-Dur und a-Moll von der erfrischend innovativen Ader der Musiker.