Jürgen Schaarwächter
Klassik.com, Germany
Mai 2016
PERFORMANCE
RECORDING

Während sein Landsmann Raphael Wallfisch systematisch das britische Cellokonzert-Repertoire des 20. Jahrhunderts erkundet, ist Steven Isserlis (geb. 1958) zumeist ‚kanonisierter‘. Das Elgar-Konzert hatte er schon 1994 unter Richard Hickox in einer hochgeschätzten Einspielung auf Virgin vorgelegt. Hier gibt es interessante neue Repertoirerand-Erkundungen, wenn auch diese nur zur Hälfte als Raritäten bezeichnet werden können: The fall of the leaf von Imogen Holst nämlich, einer Komposition für Solocello aus dem Jahr 1963, eine Art kleine Fantasie über Martin Peersons gleichnamiges Stück aus dem Fitzwilliam Virginal Book. Isserlis war mit Holst, der Tochter des Komponisten, seit den 1970er-Jahren persönlich bekannt, und die Musikerin lud den jungen Cellisten 1977 ein, The fall of the leaf anlässlich ihres 70. Geburtstages auf dem Aldeburgh Festival zu spielen. Isserlis bietet hier eine expressiv-anderweltliche Wiedergabe—er beschreibt die Komponistin, die sich weitgehend der Musik ihres Vaters Gustav Holst und ihres verehrten Freundes Benjamin Britten dienend unterordnete, als ‚exzentrisch und scharfsinnig‘. Holsts Komposition, die weit über eine Adaption eines Renaissancestücks hinausgeht, kann man in Verbindung zu Brittens Cellosuiten stellen—sicher ist sie eine ähnlich tiefgründig angelegte Schöpfung und ein sinnvolles Komplement, wenn ein Cellist Brittens Solosuiten einspielt.

Isserlis‘ Ton ist jener einer singenden Seele, von unprätentiöser Virtuosität, von großer Wärme und stilistisch höchster Perfektion. Sein Vibratoeinsatz ist ähnlich feinfühlig wie sein Formbewusstsein. Die Ausführung aller hier vorgestellten Werke, die der Interpret in seinem Booklettext ausgesprochen persönlich kommentiert, ist nahezu ideal.

In seinen Ausführungen berichtet Isserlis, dass er Gustav Holsts 'Invocation' op. 19 Nr. 2 (1911) durch Imogen Holst kennenlernte. 1980 spielte er das Werk (auf Anregung Imogens) zusammen mit dem Musikwissenschaftler und Pianisten Peter Evans auf dem Aldeburgh Festival—zur Begeisterung Imogens. Die Orchesterfassung ist seit den frühen 1990ern mehrfach auf Tonträger dokumentiert worden (zum ersten Mal durch Julian Lloyd Webber, aber auch durch Alexander Baillie, Raphael Wallfisch und Tim Hugh). Die vorliegende Einspielung mit dem Philharmonia Orchestra unter Paavo Järvi evoziert besonders stark den Geist Holst. Umso ärgerlicher fällt auf, dass Järvis Orchesteranordnung das hohe Niveau nicht spiegelt; die Platzierung der zweiten Violinen unmittelbar neben den ersten ist eine Einführung aus der Nachkriegszeit und daher weder für Holst noch für Elgar angemessen (aber vielleicht gewählt, um das Soloinstrument besser ins Zentrum rücken zu können). Dies beeinträchtigt natürlich nicht das Spiel des Philharmonia, die perfekte Ausbalancierung zwischen Bläsern und Streichern, die kluge architektonische Gestaltung.

‚Normaler‘ ist die Programmwahl mit den Cellokonzerten von Edward Elgar und William Walton. Interessanterweise betont auch Isserlis, dass die vom Komponisten für Gregor Piatigorsky vorgenommenen Änderungen des Schlusses des Walton ‚keinen wirklichen Unterschied machten. Außerdem waren sie völlig unnötig—in seiner ursprünglichen Form ist das Ende bereits perfekt‘; das bedeutet, dass bis zum heutigen Tage offenbar fast alle Cellisten die vom Komponisten vorgenommenen Änderungen letzter Hand ignorieren (keine einzige Einspielung macht gerade mit der Nutzung dieser Änderungen besondere Werbung). Järvi ist der musikalischen Struktur, wie sie Charles Münch in der Ersteinspielung mit Piatigorsky vorgelegt wurde, eher fern—Waltons Personalstil wird zugunsten eines kosmopolitischen Klanges aufgeweicht. Das bedeutet gewissermaßen, dass die Musiker Waltons musikalische Intentionen, seinen klar nachvollziehbaren Spätstil, wie er durch andere Interpreten dokumentiert ist, bewusst konterkarieren, der Musik mehr expressiven Raum und weniger klassizistische Formung bieten. Hierunter leidet aus Perspektive des Rezensenten ein wenig die architektonische Gestalt der Komposition—nicht alle Tempi ‚stimmen‘, die Klangfarben sind teilweise herber als in manch anderer Einspielung. Eine interessante Lesart von großer Klarheit und Transparenz, auf die man sich einlassen kann, die aber mindestens ebenso viel über die Interpreten und ihre Sicht aussagt wie über die musikalische Welt ihres Schöpfers.

Edward Elgars berühmtes Cellokonzert h-Moll op. 85 bietet diese Möglichkeit nicht ganz so. Auch hier sind manche Tempi Järvis eher getragener, die Musik scheint gelegentlich fast stillzustehen, wird hierdurch stellenweise ausgesprochen kontemplativ. Fans von Jacqueline du Pré und ihrem emotional-expressiven Zugriff oder auch der Lesart Elgars mit Beatrice Harrison selbst mögen immer wieder an der Temposchraube drehen wollen—doch ist Järvis und Isserlis‘ Gesamtkonzept in ihrer Konsequenz durchaus überzeugend. Gerade die Transparenz ihrer Lesart ist von besonderem Reiz, wenn ich auch die Einspielung nicht als einzige bei mir im Regal haben möchte. Insgesamt leidenschaftlich-durchdachte, überaus persönliche Lesarten ganz unterschiedlicher Kompositionen, von einem der besten Cellisten unserer Zeit dargeboten, mit dem Philharmonia Orchestra in hervorragender Form.

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