Elisa Ringendahl
Klassik.com, Germany
Oktober 2016
PERFORMANCE
RECORDING

Wer über Interpretationen musikalischer Werke ein fachlich fundiertes Urteil fällen will, hat nicht danach zu fragen, ob die jeweilige Aufführung oder Einspielung ‚seine Sache ist‘ oder nicht. Das Postulat von der Unstrittigkeit des Geschmacks mag zwar zutreffen, ist aber fehl am Platz, wo musikalische Darbietungen jenseits der bloßen Feststellung, was gefällt oder was aufstößt, bewertet werden sollen. Dass eine Aufführung gefallen kann, ohne ‚gut‘ zu sein, wird niemand anzweifeln; umgekehrt aber gibt es herausragend ‚richtige‘ Interpretationen, mit denen kaum jemand etwas anfangen kann. Woran aber misst sich die—wohlgemerkt fachlich fundierte—Qualität einer Aufnahme oder eines Konzertes? Sie misst sich daran, ob ein Interpret die immanenten Kriterien des je spezifischen Werkes erfüllt. Denn was ‚gut‘ ist und was ‚schlecht‘, ist einzig daran zu erkennen, ob die musikalische Komposition in ihrer Darstellung verständlich wird.

Die Einspielung der sechs Streichquartette op. 50 von Joseph Haydn, die das renommierte Alte-Musik-Ensemble The London Haydn Quartet mit Catherine Manson und Michael Gurevich (Violine), James Boyd (Viola) und Jonathan Manson (Violoncello) beim Label Hyperion auf Platte gebannt hat, verfolgt hörbar das Ideal eines einheitlichen, runden Klangbildes, das unabhängig von Zeitmaß und Charakter der Kompositionen immer gewahrt bleibt. Haydns Musik wird eingebettet in eine Atmosphäre der Lieblichkeit. Was den Hörer ob dieser reizvollen Wiedergabe in seinen Bann zieht, ist jedoch nicht frei vom Verdacht des zu Schönen: Das unbedingte Festhalten des Ensembles an klanglicher Homogenität läuft Gefahr, die Ecken und Kanten, die Stolpersteine der Kompositionen zu unterlaufen und einzuebnen. Allenfalls gehen die Bemühungen der Interpreten um Einheitlichkeit auf Kosten der musikalischen Plastik: Im Haydnschen Quartettsatz kommt der Bass oft zu wenig zur Geltung, sodass die Musik eines tragenden Gerüstes entbehrt.

Eine zarte, gewissermaßen indirekte Tongebung aller vier Instrumentalisten prägt die Darstellung des als ‚Preußische Quartette‘ in die Geschichte eingegangene op. 50. Innerhalb dieser Zartheit des Klanges jedoch ist das Ensemble durchaus fähig zu Schattierungen: Die breite Palette an Farben kommt gerade erst zur Geltung durch die übergeordnete Einheit des Gesamtklanges. Dass die Künstler auf Homogenität abzielen, bewährt sich vor allem in den langsamen Sätzen. Im 'Adagio' des B-Dur-Quartetts op. 50/1 sind die drei tiefen Stimmen der Kantilene der Primgeige in solch meisterhafter Geschlossenheit unterlegt, dass man den Eindruck eines einzigen begleitenden Instruments gewinnt. Die Nebenstimmen, die sich im Verlauf des Variationssatzes hinzu gesellen, lösen sich mit zauberhafter Allmählichkeit erst langsam aus dem Geschehen, um endlich Gestalt zu gewinnen. Hörbar kostet das London Haydn Quartet die Neigung hin zum Lyrisch-Kantablen, mitunter Melancholischen mehr aus als die zum Sprühend-Witzigen. Die Menuett-Sätze präsentiert das Ensemble in nobler Zurückhaltung, ohne den Tanzcharakter dabei zu verkennen.

Das Streben der Künstler nach Einheitlichkeit manifestiert sich auf artikulatorischer Ebene als Primat des Legato. Was aber in den langsamen Sätzen oder den in manchen Quartetten eher getragenen Kopfsätzen für gesteigerte Gesanglichkeit sorgt, sich also ausgesprochen positiv auswirkt, führt in anderen Zusammenhängen zu jener Einebnung und Abrundung, die die Musik einer Plastik beraubt, derer sie bedarf, um ‚sprechend‘, will sagen, verständlich zu sein. Gerade wo polyphone Passagen oder ein verwobenes Spiel von Nebenstimmen auftreten, fehlt dem Einheitlichen der Widerpart des Einzelnen: Die Stimmen treten nicht klar genug hervor, bleiben stets weich und damit zu blass. Das Getrennte, Zergliederte stellt sich dem Gebundenen nicht entgegen, sondern wird zu Gunsten einer kantenlosen Wiedergabe unterdrückt. Auch das Fehlen des Bass-Fundaments, auf das einleitend schon hingewiesen wurde und das der Oberstimme mancherorts den nötigen Untergrund entzieht, leitet sich ab von des Ensembles Neigung zu Zartheit und Lieblichkeit. Nichtsdestoweniger sei revidierend auf die Interpretation des Es-Dur-Quartetts op. 50/3 verwiesen, das sich als besonderer Höhepunkt der Aufnahme präsentiert. Hier setzen sich im entfesselt-virtuosen 'Presto'-Finale wirklich alles Stimmen deutlich voneinander ab, sodass packende Interaktion zu Stande kommt. Aus dem schlichten Tanzmuster des Kopfsatzes werden die rhythmischen Verschiebungen humorvoll herausgearbeitet. Das 'Andante più tosto Allegretto', der zweite Satz, überzeugt durch die Tempowahl, die die 'Allegretto'-Vorschrift wirklich ernst nimmt und die wechselnden Dialoge zwischen allen vier Instrumenten zum sanften Fließen bringt. Auch wirkt in den Quartetten Nr. 4 bis 6 der Ton insgesamt kerniger und robuster.

Die Interpretation des London Haydn Quartets überzeugt durch hervorragend aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel, schöne Tongebung und Kantabilität. Was jedoch zahllose Passagen, insbesondere die langsamen Sätze, zum Hörgenuss werden lässt, beraubt solche Abschnitte, die besonders plastisch, ja kantig dargestellt werden müssten, der Deutlichkeit. Der Primat der Homogenität, so wohltuend er sich auf der Oberfläche ausnimmt, führt zur Einschränkung dessen, was die Qualität einer Interpretation ausmacht: Die größtmögliche Verständlichkeit des individuellen musikalischen Werkes.

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